Mal angenommen, Lehrende hätten einen Baukasten, aus dem sie je nach Bedarf und ohne lange zu suchen Lehrmaterialien aller Art für ihre Veranstaltungen nehmen und weiterentwickeln können. Durch Prof. Christian Czarnecki und Prof. Martin Wolf wird dieses Szenario im Bereich der Wirtschaftsinformatik in Nordrhein-Westfalen bald Realität. Die beiden leiten das OERContent.nrw-Projekt WILMO (Wirtschaftsinformatik Lehr- und Lern-Module), in dem insgesamt sechs Hochschulen aus NRW einheitliches Lehr- und Lernmaterial erstellen. Wie genau das aussehen soll, was Lehrende künftig mit hinzugewonnener Zeit machen können und wie in einem so großen Projekt überhaupt die Zusammenarbeit funktioniert, verraten Czarnecki und Wolf im Interview.
„Jeder Dozent ist erst einmal ein, zwei Jahre damit beschäftigt, seine Lehrmaterialien zusammenzustellen. Diese Zeit kann er ja besser nutzen.“ Die Aussage stammt von Ihnen, Herr Prof. Wolf. Wenn Sie als junger Lehrender schon auf einen Grundstock an Lehrmaterialien hätten zurückgreifen können – was hätten Sie in den zwei Jahren gemacht?
Prof. Martin Wolf: (schmunzelt) Verdammt viel vermutlich. Ich muss gestehen, dass ich früher auch auf Materialien zurückgegriffen habe, die über die Verlage veröffentlicht wurden. Ich habe zu Beginn auch in Fächern unterrichtet, für die ich gar nicht berufen worden war – Kostenrechnung zum Beispiel. Da haben mir die vorhandenen Materialien sehr geholfen. In anderen Bereichen hätte ich mir hingegen gewünscht, dass es schon damals einen Grundstock an sortiertem und qualitativ hochwertigem Material gegeben hätte, da viel Arbeit in die Erstellung von Folien und Lernmaterialien geflossen ist.
Genau hier setzen Sie mit Ihrem Projekt WILMO an. Können Sie die Idee einmal beschreiben?
Wolf: Die Wirtschaftsinformatik ist hier in Aachen noch sehr jung. Als ich vor zwölf Jahren als Dozent an der FH Aachen angefangen habe, gab es die Wirtschaftsinformatik noch gar nicht. Ich selbst habe einen Informatik-Hintergrund, und zusammen mit meinem Kollegen Prof. Stephan Jacobs aus der BWL kam die Idee auf, das zu ändern. Also haben wir 2016 den ersten Wirtschaftsinformatik-Studiengang in Aachen auf die Beine gestellt. Damals stand ich wieder vor der Problematik, eine Vorlesung aufbauen zu müssen: Für die Einführung in die Wirtschaftsinformatik konnte man auf unzählige Literatur und unendlich viel Verlagsarbeit zurückgreifen. Das war mir aber alles nicht gut genug – entweder zu speziell oder zu theoretisch, aber nie das, was ich haben wollte. Da habe ich eine Lücke gesehen. Dass wir noch kein starkes Setting für die Einführung in der Wirtschaftsinformatik haben, spiegelt sich auch in der Meinung vieler Kollegen wieder. Das wollen wir mit unserem Projekt WILMO ändern.
Durch WILMO sollen 40 bis 60 Prozent der im Grundstudium benötigten Materialien abgedeckt sein. Können Sie den Aufbau einmal erklären, Herr Prof. Czarnecki?
Prof. Christian Czarnecki: Es stimmt, wir wollen mit WILMO bei den Kernfächern des Wirtschaftsinformatikstudiums den Grundstock abdecken. Dafür werden wir einen Baukasten aus ganz vielen Materialien zur Verfügung stellen, in dem Vorlesungsinhalte, Screencasts, Fallstudien, Übungen, Prüfungsaufgaben und mehr enthalten sind. Dozierende haben dann die Möglichkeit, ihre Vorlesungen mit unserem Material zu gestalten und vor allem mehr Freiraum, weil sie nicht alles selbst erstellen müssen. Wir würden uns freuen, wenn sie diesen Freiraum nutzen würden, um neue Lehrkonzepte auszuprobieren. Flipped Classroom, projektorientierte Lehrveranstaltungen oder fallstudienorientierte Lehrveranstaltungen zum Beispiel. Und die andere Idee ist, Studierenden die Möglichkeit zu geben, sich das Material anzuschauen. Da an unserem Projekt sechs Hochschulen beteiligt sind, haben wir in NRW einen großen Konsens in der Wirtschaftsinformatik.
Die Wirtschaftsinformatik gilt als dynamische Fachrichtung. Ist es deswegen besonders wichtig, Lehrenden Freiraum für neue und moderne Lehrkonzepte zu ermöglichen?
Czarnecki: Die Wirtschaftsinformatik ist eine Mischung aus etablierten Methoden und Modellen, um die digitale Transformation zu gestalten sowie ganz jungen Themen wie Künstliche Intelligenz, Chatbots oder Robotic Process Automation, mit denen wir uns intensiv beschäftigen und beschäftigen müssen. Wenn wir jetzt durch WILMO den Grundstock liefern, können wir uns noch stärker um die innovativen Themen kümmern. An der FH Aachen haben wir im Wirtschaftsinformatik-Studium einen sehr breit gefächerten Wahlpflichtkatalog, in dem diese innovativen Themen sehr wichtig sind.
Sie haben einmal gesagt, dass vermutlich keine Dozentin und kein Dozent Lehrmaterialien zu 100 Prozent übernehmen würde, Herr Wolf. Wie passt das zum Ansatz von WILMO?
Wolf: Es stimmt, den roten Faden muss ich als Dozent immer selbst festlegen. Ich kann zwar auf das Lehrmaterial zurückgreifen, aber vielleicht möchte ich einige inhaltliche Aspekte in der Veranstaltung bewusst betonen oder manche auch weglassen. Dabei ist es hilfreich, dass ich nicht mit Power-Point-Karaoke anfangen muss. Ich muss mir zu Stichpunkten nichts ausdenken, sondern weiß, dass es fundiert aufgearbeitet ist und kann auf dieses Wissen frei zurückgreifen, es sogar erweitern und nach meinen Bedürfnissen aufbereiten. Da alle Materialien OER sind, habe ich auch alle Freiheiten. Ich spare einfach enorm viel Zeit, wenn ich Hintergrundmaterialien schnell finden und nutzen kann.
Czarnecki: Das genau ist die Idee des Baukastens. Wir wollen keine monolithische Veranstaltung zur Verfügung stellen, sondern jede und jeder kann sich an den einzelnen Bausteinen bedienen und diese flexibel zu seiner eigenen Veranstaltung zusammenbauen.
Am Projekt sind insgesamt sechs Hochschulen beteiligt. Wie koordinieren Sie die Arbeit untereinander?
Czarnecki: Dass wir in einem so umfangreichen Projekt arbeiten, macht es so besonders, stellt uns aber auch vor einige Herausforderungen. Zum einen benötigen wir eine gewisse Projekthierarchie mit einem Projektmanagement-Team und verschiedenen Regelterminen, zum anderen wollen wir aber bewusst eine flache Hierarchie, damit neue Ideen zwischen den einzelnen Teams entstehen können. Darüber hinaus haben wir einen Beirat gegründet, der eine Außenperspektive einnimmt, und einen Qualitäts-Management-Prozess aufgesetzt.
Stimmt es, dass im Beirat auch Studierende involviert sind?
Czarnecki: Ganz genau. Das ist uns auch ganz wichtig. Wir haben den Beirat bewusst sehr heterogen besetzt: mit Studierenden, Unternehmensvertretern oder Professorinnen und Professoren aus anderen Hochschulen, um viele neue Impulse zu erhalten.
Ein Pfund Ihres Projekts ist, dass Sie durch die sechs beteiligten Hochschulen und potenziell über 4.000 Studierenden im Fachbereich eine breite Basis haben, die die erstellten Materialien künftig nutzen können.
Czarnecki: Unser Ziel war von Anfang an, dass die Materialien so flächendeckend wie möglich genutzt werden. Wir wollten kein Papier ohne Mehrwert produzieren, deswegen haben wir zuallererst mit allen Beteiligten eine lange Liste an Lehrveranstaltungen gesammelt, in denen die Materialien eingesetzt werden können. Sie sollen an allen beteiligten Hochschulen und bestenfalls darüber hinaus den Weg in die Praxis finden.
Wolf: Zudem ist die Gemeinschaft der Wirtschaftsinformatik-Lehrenden in Deutschland eine sehr eingeschworene Community. Einmal im Jahr findet beispielsweise die Konferenz des AKWI (Arbeitskreis Wirtschaftsinformatik an Hochschulen für angewandte Wissenschaft, deren Stellvertretender Sprecher aktuell Prof. Czarnecki als Nachfolger von Prof. Wolf ist, Anm. d. Red.) statt, auf der sich fast alle Lehrenden aus unserem Bereich aus Deutschland treffen. Über diesen Hebel haben wir auch die Möglichkeit, WILMO über NRW hinaus bekannt zu machen.
Was würden Sie Lehrenden auf der Konferenz mit auf den Weg geben: Warum sollten sie die OER-Materialien nutzen?
Wolf: Wenn das WILMO-Projekt zu Ende ist und wir qualitativ hochwertiges OER-Material in der Wirtschaftsinformatik haben, bin ich sicher, dass sich unsere OER von selbst durchsetzen werden. Zum einen, weil die Zeitersparnis enorm ist. Zum anderen, weil man auf unter Fachleuten abgestimmtes Material zurückgreifen kann. Das ist dann ein Standard, auf man sich in seiner Lehre hervorragend verlassen kann.
Zu den Personen
Prof. Dr.-Ing. Christian Czarnecki ist seit 2015 Professor für Wirtschaftsinformatik, seit 2021 an der FH Aachen. Er verfügt über mehr als 15 Jahre Berufserfahrung in der Unternehmensberatung und leitete zahlreiche nationale und internationale Projekte. Seit 2022 ist Czarnecki Leiter des OERContent.nrw-Projekts WILMO.
Prof. Dr.-Ing. Martin R. Wolf ist seit 2011 Professor im Fachbereich Elektrotechnik und Informationstechnik an der Fachhochschule Aachen. Sein aktuelles Lehrgebiet ist Management von Informationstechnologie. Wolf ist zudem Vizepräsident der Gesellschaft für Informatik e.V. und Geschäftsführer der snaac-it GmbH. Seit 2022 ist er stellvertretender Leiter des OERContent.nrw-Projekts WILMO.