Prof. Tobias Brandt (INNO4S): „Reale Beispiele machen Nachhaltigkeit greifbar“

Kaum Themen haben in der Lehre so sehr an Relevanz gewonnen, wie Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Innovation. Doch wie bringt man Studierenden diese großen Themenfelder bestmöglich bei? Professor Tobias Brandt von der Universität Münster hat zusammen mit der Universität Paderborn und der Universität zu Köln mit dem Projekt „Digital Innovation for Sustainable Development“ (INNO4S) eine Antwort. Anhand von sechs realen Fallbeispielen sollen Studierende in sogenannten Teaching Cases Lösungsszenarien kreieren. Dabei haben sie stets die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen im Blick und begeben sie sich gedanklich unter anderem mal 9.000 Kilometer weiter weg. INNO4S ist eines von 18 Projekten aus der zweiten Förderrunde der OERContent.nrw-Förderlinie und soll bis Ende 2024 fertiggestellt sein. Die Kurse und Materialien werden dann auf dem Landesportal ORCA.nrw abrufbar sein.

 

Herr Professor Brandt, was galt zu Ihrer Studienzeit in den Wirtschaftswissenschaften als innovativ, digital oder nachhaltig?

Prof. Tobias Brandt: Das Besondere und Neue im Bereich der Digitalisierung war sicher das Aufkommen der großen Plattformen. Ich erinnere mich noch gut: eBay war damals das große Ding, und auch Google kam als riesiger Player auf den Markt. Ich habe 2011 mein Diplom abgeschlossen und gehörte damit zur ersten Studienabschluss-Generation mit Smartphone. Eine wirkliche Vorstellung, wohin das alles führen würde – Stichwort: universelle Erreichbarkeit – hatte damals aber noch niemand – auch nicht an der Universität. Und auch die gedankliche Verbindung zwischen Digitalisierung und Nachhaltigkeit gab es noch nicht. In meiner Diplomarbeit 2011 habe ich mich dann mit „Green-IT“ beschäftigt, also der Frage, wie man die Energiekosten der Kommunikationstechnologie reduzieren kann. Mit dem Thema war man aber eher noch ein Außenseiter.

 

Was hat sich seitdem mit Blick auf die drei großen Wörter Digitalisierung, Innovationen und Nachhaltigkeit in der Lehre verändert?

Brandt: Sehr viel! Das Thema Nachhaltigkeit hat gerade einen enormen Boost. Zugegeben: Es hat auch lange gedauert, bis die Relevanz flächendeckend verstanden wurde. Die Erwartung an eine BWL- und VWL-Fakultät ist heute, dass sich das Thema Nachhaltigkeit durchs komplette Studium zieht und ernsthaft besprochen wird. Beim Thema Digitalisierung hat sich auch einiges getan – vor allem beschleunigt durch die Corona-Pandemie. Da ist auch dem Letzten bewusst geworden, dass man an Digitalisierung nicht vorbeikommt. Bei uns im Projekt geht es jetzt darum, diese Themen miteinander zu verbinden. Per se ist es ja so: „Je mehr technische Geräte ich involviere, desto mehr Energie verbrauche ich.“ Unser Anspruch muss aber sein, auf der anderen Seite auch Ziele zu erreichen, die das Problem nicht nur aufwiegen, sondern sogar überkompensieren.

 

Wie ist die Idee zu INNO4S entstanden?

Brandt: Das weiß ich noch genau: Es war vor einigen Jahren an der School of Management an der Erasmus-Universität in Rotterdam, wo das Thema Nachhaltigkeit schon viel länger als in Deutschland eine zentrale Rolle in der Lehre spielt. Ich war an einem Projekt beteiligt, das Teaching Cases zu den 17 Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen entwickelt hat. Die Idee fand ich damals faszinierend und mir war klar, dass ich irgendwann selbst eine Veranstaltung zu dem Thema konzipieren wollte. Zusammen mit unseren Kooperationspartnern Jun.-Prof. Milad Mirbabaie aus Paderborn und Prof. Mona Mensmann aus Köln und durch die OERContent.nrw-Förderung hat es jetzt zum Glück geklappt.

 

Lisa Nagel und Isa Freese

Prof. Tobias Brandt | © Lukas Walbaum

 

Auch in Ihrem Projekt spielen die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen eine große Rolle.

Brandt: Genau, auf den sogenannten UN Development Goals basiert unser Projekt. Wir versuchen bei INNO4S Fallbeispiele zu identifizieren, die viele der insgesamt 17 Ziele behandeln, denn es ist klar: Nachhaltige Entwicklung kann man nur als Gesamtbild denken. Wir entwickeln insgesamt sechs Cases, für die es dann jeweils ein Primärziel gibt, aber andere natürlich mit reinspielen.

 

Wie sieht ein konkreter Case aus?

Brandt: Zunächst einmal handelt es sich bei allen sechs Cases um reale Fälle. Einer wird sich zum Beispiel primär ums Nachhaltigkeitsziel „bezahlbare und saubere Energie“ drehen. Er behandelt eine Community im Norden von Kalifornien, die in der Vergangenheit öfter durch die Auswirkungen von Stürmen und Waldbränden vom Stromnetz abgeschnitten war. Daraufhin hat sie sich ein sogenanntes Microgrid, also ein Inselnetz, aufgebaut. Durch die Photovoltaikanlagen, einen Generator, einigem mehr sowie einer Steuerungssoftware haben die Menschen dort eine Energieversorgung, bei der sie nicht mehr in erheblichem Maße von der Gesamt-Infrastruktur abhängig sind, sondern im Zweifel ein paar Tage autark über die Runden kommen. Diesen Case gehen wir dann mit den Studentinnen und Studenten durch.

 

Klingt, als ob es für Studierende keine gewöhnliche Lernerfahrung sei.

Brandt: So soll es sein, auch wenn am Anfang sicher auch ein, zwei normale Vorlesungen stehen, um überhaupt in das Thema „digitale Innovation“ hineinzukommen. So ein Thema braucht eine Einführung, aber auch dafür wird es bei uns im Projekt Lehreinheiten geben. Danach werden wir nacheinander sogenannte Teaching Cases durcharbeiten – am besten intensiv, pro Case ein bis zwei Wochen in einem Gesamt-Zeitraum von zwei bis drei Monaten. Dieses Case-based-Teaching ist außerhalb der Business Schools und der Medizin noch nicht wirklich verbreitet, der Vorteil ist aber, dass man in einer Projektgruppe intensiv eine Lösungsstrategie für einen Fall erarbeitet, permanent Feedback bekommt und die Ergebnisse dann vorstellt. So werden sich die Studierenden nach und nach insgesamt sechs der UN-Nachhaltigkeitsziele genau anschauen.

 

Werden am Ende die erarbeiteten Vorschläge der Studierenden mit dem realen Ergebnis verglichen?

Brandt: Das ist denkbar, allerdings noch nicht entschieden. Wichtig ist vor allem, dass die Studierenden die Lösung für ein Problem immer im Hier und Jetzt entwerfen, denn mit der Zeit ändern sich auch die Voraussetzungen und Möglichkeiten, das muss berücksichtigt werden.

 

Wie können Lehrende das Material aus INNO4S einsetzen?

Brandt: Das Projekt ist so konzipiert, dass die Inhalte maximal wiederverwertbar sind. Lehrende können die sechs Module komplett einsetzen oder sich auch nur einzelne Module oder Materialien nehmen und diese mixen. Wir entwickeln dazu für jeden Teaching Case auch eine sogenannte Teaching Note, also einen Lehrplan, der erklärt, wie Lehrende mit dem Material umgehen können. Aber es steht – ganz im Sinne von OER – jedem frei, es zu nutzen wie man möchte.

 

Innovation, Nachhaltigkeit und Digitalisierung – Inwieweit kann INNO4S helfen, diese drei großen Wörter greifbar zu machen?

Brandt: Es stimmt, alle drei Wörter können erst mal alles und nichts bedeuten. Der Vorteil der Cases ist jetzt, dass man von der Abstraktion weggeht und schaut, wo und wie genau diese drei großen Wörter wirklich vorangetrieben worden sind.

 

Was muss passieren, damit Ihr Projekt ein Erfolg ist?

Brandt: Mein Wunsch ist es, dass die Entscheider von morgen noch besser vorbereitet sind und vor allem sehen, dass die drei eben angesprochenen Begriffe nicht nur hohle Worte sind. Und bezogen auf unser Material hoffe ich, dass es oft wiederverwertet wird. Es sind im Projekt schon drei große Universitäten beteiligt, das ist eine gute Basis, aber das Schöne an OER ist ja, dass es keine Verbreitungsgrenzen fürs Material gibt. Daher erstellen wir alles auch auf Englisch.

 

Sie haben verraten, dass Sie schon lange einen Kurs dieser Art erstellen wollten und ihn im Zweifel auch ohne Förderung angegangen wären. Was macht die OERContent.nrw-Förderlinie besonders?

Brandt: Ohne die Förderung würde der Kurs ganz anders aussehen, er würde niemals so umfangreich und detailliert. Jetzt haben wir die Expertise der anderen Hochschulen dabei und darüber hinaus die Kapazität, über zwei Jahre am Material zu arbeiten. Gerade bei den internationalen Kooperationen wie zum Beispiel mit der Community in Kalifornien ist es am Anfang überaus wichtig, die richtigen Partner zu finden, eine Vertrauensebene aufzubauen und sie zu überzeugen, dabei zu sein. Ohne Förderung wäre das nur schwer möglich.

 

Wie kann man sich die Zusammenarbeit unter den drei beteiligten Universitäten vorstellen?

Brandt: Wir arbeiten eng zusammen und versuchen stark voneinander zu lernen. Inhaltlich haben wir uns aufgeteilt, jede Universität entwickelt zwei von sechs Cases – zugeschnitten auf ihre jeweiligen Stärken. Wie bei den meisten Projekten hat es zu Beginn einen Kick-off gegeben, bei dem wir uns einen gesamten Tag bei uns in Münster getroffen haben, und dann ging die Arbeit los. Alle zwei Wochen haben wir einen Jour Fixe, in dem wir uns austauschen.

 

Ihre Vision ist, dass INNO4S später auch als Massive Open Online Course zur Verfügung steht. Können Sie das MOOC-Prinzip einmal erläutern?

Brandt: Ein MOOC wäre schon noch eine andere Stufe: Das Wort „massive“ zeigt ja schon, dass der Kurs einer sehr großen Gruppe – auch international – zugänglich gemacht wird und man bei erfolgreicher Absolvierung sogar ein Zertifikat erhält. Für einen MOOC würde sich unser Thema sicher anbieten, aber soweit sind wir noch nicht. Ein MOOC bringt dann auch noch mal ganz andere Komplexitätsstufen mit sich.

 

Innovativ, nachhaltig und digital. Passt das auch zu INNO4S?

Brandt: Ein UN-Nachhaltigkeitsziel lautet „hochwertige Bildung“, OER spielen da auch eine Rolle. Von daher gefällt mir der Gedanke, dass man mit einem offenen Kurs über Digitalisierung und Nachhaltigkeit selbst ein Nachhaltigkeitsziel erreichen kann.

 

Zur Person:

Tobias Brandt (37) ist seit 2021 Professor für Digital Innovation and the Public Sector an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Zuvor war er als Assistant Professor of Business Information an der School of Management der Erasmus-Universität im niederländischen Rotterdam tätig, wo er 2020 unter anderem mit dem Innovative Teaching Award ausgezeichnet wurde. Seit August 2022 leitet er das durch die OERContent.nrw-Förderlinie unterstützte Projekt INNO4S.