Kommunikation als wichtiger Baustein im Medizinstudium – eKommMed.nrw
Von der Anamnese bis zum Überbringen einer Krebsdiagnose – Kommunikation spielt in der Medizin in vielen Bereichen eine starke Rolle. Im Projekt eKommMed.nrw werden an sieben Hochschulen in NRW Materialien entwickelt, die Studierende bestmöglich auf Szenarien in ihrem späteren Berufsleben vorbereiten. In Kürze werden sie auf ORCA.nrw abrufbar sein.
Bernd Reuber führt ein glückliches Leben. Nach seiner Arbeit als Steuerfachangestellter werkelt der 52-Jährige gerne mit seiner Frau Andrea im Garten oder verbringt Zeit mit seinen Kindern. Fußball ist das gemeinsame Hobby von ihm und Sohn Leander (9). Wenn die beiden spielen, steht Bernd Reuber oft im Tor. Er mag, was er sich mit seiner Familie zusammen aufgebaut hat, und ahnt nicht, dass schon bald eine schwere Zeit auf ihn und seine Liebsten zukommen wird.
Ein paar Tage später, einige Kilometer entfernt, grübelt Prof. Matthias Lutterbeck. Er ist Chefarzt im Klinikum, und sein Terminplan ist straff. Fürs Mittagessen mit dem Kollegen reicht die Zeit leider nicht, in 20 Minuten wartet ein Patient auf ihn. „Es könnte ein schwieriges Gespräch werden“, denkt Prof. Lutterbeck, „der Mann ist noch recht jung, und ich muss ihm die Diagnose Darmkrebs überbringen“. Der Patient, der vor seiner Tür wartet, ist Bernd Reuber.
Was wie ein reales Szenario klingt, ist eines von zahlreichen Fallbeispielen aus dem Projekt eKommMed.nrw. Sieben Hochschulen in Nordrhein-Westfalen erstellen darin zusammen seit April 2022 E-Learning-Ressourcen für eine kompetenzorientierte Kommunikationsausbildung im Gesundheitswesen in NRW (kurz: eKommMed.nrw). „Kommunikation ist in vielen Bereichen in der Medizin wichtig“, sagt Projektleiter Prof. Sven Benson von der Universität Duisburg-Essen (UDE): „Sie ist die Basis für gute Behandlungsabläufe, die Zufriedenheit von Patienten und Mitarbeitern sowie die Wirksamkeit von Therapien.“ Entsprechend erforderlich ist es, im Studium die Kommunikationskompetenzen der angehenden Medizinerinnen und Mediziner zu schulen. Eine Diagnose fachlich zu stellen ist schließlich nicht dasselbe wie sie persönlich zu überbringen.
Ausprobieren, um Schlüsse zu ziehen
Der gesamte eKommMed.nrw-Kurs untergliedert sich in sieben Module. In drei Begleitmodulen geht es um Grundlagen der Kommunikation, Beziehungsaufbau und diversitätssensible Kommunikation, die vier Anwendungsmodule behandeln die Themenfelder Anamnese, Überbringen schlechter Nachrichten, Kommunikation im Team und telemedizinische Kommunikation. Viele Inhalte – wie zum Beispiel zu den Grundlagen oder der Kommunikation im Team – richten sich dabei nicht ausschließlich an Lehrende und Studierende der Medizin, sondern „sind sicher für alle mit medizinischem Kontext – zum Beispiel aus dem Bereich Soziale Arbeit oder Psychologie – interessant“, sagt Benson.
Das Fallbeispiel von Herrn Reuber ist Teil des Moduls „Überbringen schlechter Nachrichten“. In diesem Szenario wird in einem gut dreiminütigen Video zunächst der Patient vorgestellt, im Anschluss ein Video mit den Gedanken des Arztes vor dem Patientenkontakt abgespielt. Und dann wird es interaktiv: Das nächste Video zeigt das 20-minütige Gespräch zwischen Prof. Lutterbeck und Herrn Reuber. Regelmäßig wird es pausiert, und Studierende erhalten gezielte Fragestellungen, um den Verlauf zu reflektieren. Dabei können sie auf unterstützende Materialien wie eine Checkliste zur Gesprächsvorbereitung zurückgreifen. Es wartet dann ein Video, in dem Herr Reuber seinen Eindruck vom Gespräch schildert, das Modul schließt mit weiteren Reflexionsfragen. In anderen Modulen können Studierende beispielsweise in einer Videopause selbst entscheiden, wie es weitergehen soll. „So kann ich mich zu Hause ausprobieren und bewusst mal einen negativen Gesprächsverlauf erleben, um meine Schlüsse daraus zu ziehen – und ohne dass dies zulasten des Patienten geht“, erklärt Prof. Benson.
Eine Sache ist ihm dabei wichtig: „Die Kommunikationsausbildung soll durch unser Projekt nicht ins Internet verlagert werden – ganz im Gegenteil. Kommunikation hat schon jetzt einen hohen Stellenwert in der medizinischen Ausbildung. Wir wollen keine Revolution, sondern eKommMed.nrw soll unterstützen und die Möglichkeiten in der Lehre erweitern.“ Benson selbst weiß, wovon er spricht. Weit vor seiner Zeit als Professor für Didaktik in der Medizin absolvierte er eine Ausbildung als Krankenpfleger und kann sich gut an Visiten erinnern, in denen Oberärzte mit Kolleginnen und Kollegen um ein Patientenbett herumstanden und in Anwesenheit des Patienten nur über ihn statt mit ihm gesprochen haben. „Dabei sind es oft Kleinigkeiten, die es braucht, um Vertrauen aufzubauen. Es kann schon entscheidend sein, ob der Arzt oder die Ärztin auf mich zukommt, sich vorstellt, die Hand gibt und anbietet, dass man sich bei Fragen jederzeit melden könne. Das sind 30 Sekunden, und der Patient oder die Patientin ist schon ganz anders eingebunden“, sagt Benson.
Seit seiner Zeit als Psychologie-Student faszinierte ihn unter anderem die Placebo-Forschung im medizinischen Bereich. Benson: „Studien zeigen, dass Schmerzmittel besser wirken, wenn ich die Anwendung vernünftig erkläre als sie unkommentiert zu verabreichen. Obwohl pharmakologisch beides Mal die Lage gleich ist, kann Kommunikation bei neurobiologischen Prozessen viel ausmachen.“ Entsprechend froh ist er, sich bei eKommMed.nrw mit seinen Kolleginnen und Kollegen aus anderen Hochschulen in NRW mit dem Thema Kommunikation in der Medizin auseinanderzusetzen.
Intensiver Austausch zwischen den Hochschulen
Schon vor dem Projektstart pflegten die Hochschulen im Netzwerk der Medizinischen Fakultäten in NRW (KommMedNRW) einen guten Austausch, durch die Förderung im Rahmen der OERContent.nrw-Förderlinie ist dieser nun noch enger geworden. „Wir sind räumlich so nah beieinander und haben ähnliche Aufgaben, da macht es Sinn, sich gegenseitig zu unterstützen“, sagt Benson und schwärmt: „Ich kann die Zusammenarbeit nur loben, wir hatten im Projekt vom ersten Tag an eine vertrauensvolles Atmosphäre, die das Arbeiten leicht macht.“ Neben der UDE sind die Universität Bielefeld, Ruhr-Universität Bochum, Universität zu Köln, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf sowie die Universität Münster beteiligt. Nach über zwei Jahren intensiver Arbeit werden die Ergebnisse in Kürze veröffentlicht und als Open Educational Resources über das Landesportal ORCA.nrw abrufbar sein.
Dann wissen Lehrende und Studierende aus NRW und außerhalb auch, wie es mit Herrn Reuber weitergeht. Prof. Lutterbeck hat ihm im Gespräch nämlich nicht nur die Diagnose mitgeteilt, die beiden haben gemeinsam auch schon über einen individuellen Behandlungsplan für Herrn Reuber gesprochen. Es wird nicht ihre letzte Kommunikation gewesen sein.